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Dr. Donatella Cacciola arbeitet als Wissenschaftlerin und Kunsthistorikerin, ein Schwerpunkt ihrer Forschung sind Designklassiker aus der Bauhaus-Zeit wie der B3 Clubsessel von Marcel Breuer. Für Markanto hat sie sich mit dem Entwurf des Hockers von Johannes Itten aus dem Jahr 1928 befasst:
Der Itten-Hocker: hinter den Kulissen einer Reedition
„Für welche Zwecke eignet sich ein Hocker? Heute kennen wir die piktogrammartigen, begründeten Warnungen eines internationalen DIY-Möbelproduzenten, die darauf aufmerksam machen, dass mancher Hocker eine zu beachtende Belastungsgrenze hat. Doch in den letzten 100 Jahren zeigen einige Beispiele, welches Allround-Möbelstück ein Hocker sein kann: Sitzgelegenheit, Beistelltisch, Schreibunterlage. Der gestalterische Wert eines Hockers hat zudem in Deutschland Gerichte beschäftigt, die in ihren Urteilen das eine oder das andere Modell als Werk im Sinne des künstlerischen Urheberrechts erklärten.
Erklärungen, Empfehlungen, Urteile: Das alles steht in keiner Verbindung zum kubusförmigen Hocker, den der Schweizer Maler und Kunstpädagoge Johannes Itten (1888–1967) im Jahre 1928 für seine 1926 in Berlin gegründete Kunstschule entwarf und anfertigen ließ. Ein Patent hierfür? Fehlanzeige! Gewerblicher Schutz? Unvorstellbar! Und vor allem: nicht notwendig. Johannes Itten hatte mit seiner Itten-Schule in Berlin dank gezielter und ausgeklügelter Öffentlichkeitsarbeit eine eigene Marke etabliert. Zu Recht nennt die Forschung Johannes Itten „Kunstunternehmer“. (1) Deshalb ist es nur konsequent, den Hocker, den der Designhändler Sven Vorderstrase, Inhaber von Markanto in Köln, im Herbst 2024 anlässlich seines 25-jährigen Firmenjubiläums reedierte, „Itten-Hocker“ zu nennen.
Hintergrund der Reedition war die Ausstellung&nbsp; „Der Ulmer Hocker. Idee. Ikone. Idol“ &nbsp;im Archiv der Hochschule für Gestaltung Ulm zwischen 2021 und 2022, für die Vorderstrase als Leihgeber anderer Exponate gefragt war. (2) Der Itten-Hocker war in der Ausstellung zu sehen, und Besuchende konnten der Ausstellung entnehmen, er sei in seiner Multifunktionalität ein Vorreiter für weitere Designklassiker gewesen. Das regte Vorderstrase zu dessen Neuauflage an. Das Ergebnis ist eine Wiederentdeckung, und die Reedition ist ein Anlass, um die Geschichte dieses Hockers wiederaufzugreifen und noch mehr Aspekte seiner Rolle innerhalb Ittens Werk als Kunstpädagoge und in Bezug auf andere Objekte der Kunst und der Körperkultur herauszuarbeiten.&nbsp;Aufwendig hergestellt, besteht der Hocker aus Birke-Furnier und hat eine unsichtbare Konstruktion aus Kantholz innenliegend (3), wodurch er ein Gewicht von acht Kilo erreicht. Es ist nicht bestätigt, ob er, wie das weitere Inventar der Itten-Schule, in der Tischlerei Tatler&nbsp;(4) angefertigt wurde. Drei ovale Aussparungen, eine „oben“, zwei an den Seiten (an sich kann man sich jedoch auf jeder Seite des Hockers setzen oder stützen), bilden die Griffe.
Abbildung 2: Johannes Itten auf seinem Hocker 1930, Foto&nbsp;UMBO, © Phyllis Umbehr/Galerie Kicken Berlin/VG Bild-Kunst 2024
Der Itten-Hocker diente in mehrfacher Hinsicht zur Raum- und Unterrichtsgestaltung in der Itten- Schule. Während des Kunstunterrichtes sollte jeder Studierender einen benutzen, wie Itten selbst (Abbildung 2).&nbsp;was in diesem Kontext auf „flache Hierarchien“ im Rahmen des Unterrichtes hinweist. Tatsächlich galt der Hocker als Tisch, als Ablage, als Sitzgelegenheit, als Podest für Modelle [Abbildung 1 ganz oben).&nbsp;Aus mehreren Gründen ist es jedoch anzunehmen, dass Ittens Hocker ebenfalls eine zentrale Funktion in den vermittelten Inhalten von Ittens reformpädagogischer Schule hatte. Zum Beispiel sah die dortige „Ganzheitslehre“&nbsp;(6) vor, dass Studierende sich mit dem Studium des „Stofflichen, des rein Materiellen“&nbsp; befassen sollten, nicht zuletzt auch mit Holzmaserungen – welche sich am Itten-Hocker trotz gebeizter Oberfläche gut erkennen lassen.
Der Hocker ist bereits im ersten Werkverzeichnis von Johannes Itten aus dem Jahre 1978 als eigenständiges Werk dokumentiert (auch wenn ihm bis jetzt die gebührende Ehre verwehrt wurde).(7) Die Maßen 40 x 45 x 36 cm machen ihn „dreifach stapelbar“. (8) Die Zahlen sind in sich proportionell, und es böte sich in einer weiteren Untersuchung an, genauere mathematische Zusammenhänge herauszufinden, konsequent zu Ittens Lehrprinzipien.&nbsp;Der Hocker ist zudem im schulischen Kontext mehrfach dokumentiert, auch in Gemälden der Itten-Schülerin Hannah Müller (9). Doch seine bekannteste Darstellung ist eine Schwarzweiß-Fotoaufnahme, mit hellem Hintergrund auf einem hellen Teppich. Axonometrisch aufgestellt, wirft der Hocker einen dunklen Schatten: voilà ein Vorbild für das Studium des Kontrasts „hell/dunkel“ an der Itten-Schule. Der geworfene Schatten kreuzt zudem Ittens Farbenlehre. (10) Ein Versuch hierzu sah vor, dass die Studierende ein Objekt in den Schatten stellten. Ob der Hocker zu den Modellen hierfür zählte? Und diente die Schwarzweißaufnahme als Modell für die zahlreichen Schachbrettkompositionen, die in den Mappen der Studierenden zu finden sind?&nbsp;
Relevanter ist jedoch, dass der Würfel als Form zentral in Ittens Werk noch vor Schulgründung – siehe die verschollene „Würfelkomposition“ aus 1919 und die Lithografie „Haus für einen weißen Mann“ aus der ersten Bauhaus-Mappe aus 1920 – und vor seiner dort angebotenen Grundlehre ist. Der Würfel wird für die Berliner Studierende eine der elementarsten Gestaltungsgrundlagen, die sich in mehreren ihrer Studien für Objekte und Gebäude übersetzt finden lässt. (11)&nbsp;Interessanterweise ist es festzustellen, dass in den Studien der Itten-Schüler die zweidimensionale die einzige Übertragung&nbsp;&nbsp;dieser dreidimensionalen Form ist. Es erfolgt sozusagen durch die künstlerische Umsetzung der geometrischen Form eine Translation vom Materiellen in die Abstraktion. Umgekehrt war die Stellung des Würfels in Ittens Lehrauffassung. Tatsächlich gehörte der „Würfel“ zu den geometrischen Körpern, die sich aus einer rhythmischen Entwicklung der drei Grundformen Kreis, Dreieck, Quadrat ergeben. Beispielsweise ist in einem Würfel eine horizontale, vertikale, diagonale Bewegung implizit.&nbsp;(12)&nbsp;Aufgabe der Studierende war, den Raum durch das Zeichnen zu erkunden. Möglicherweise bedienten sie sich des Kubus als Modell. Vor allem, aber: Indem sie sich selber auf einem Kubus stützen, erfuhren sie diese plastische Form mit mehreren Sinnen.&nbsp;
Kurzum: Der Itten-Hocker forderte Benutzende dazu heraus, sich nicht selten damit körperlich auseinandersetzen, ihn anzufassen, sich zu bewegen. Das war kongenial zu Ittens reformpädagogischen Ansatz der Ganzkörperlehre, die Bewegung als Teil der individuellen Persönlichkeitsentwicklung vorsah und in der u.a. tägliche „körpermotorische Schulungen“&nbsp;(13)&nbsp;inbegriffen waren. Erweitert man den Fokus auf den bewegungstherapeutischen Kontext bis heute, wo die Bewegung zur Selbstoptimierung und gar zur Heilung führen soll, so findet sich in jeder Praxis für Physiotherapie ein Gerät in Form eines hölzernen Doppelkubus mit zwei Griffen als ovale Aussparungen und auf jeder ihrer unterschiedlichen Höhen anwendbar, genannt Plyo-Box.&nbsp;(14)&nbsp;Die Ähnlichkeiten mit Ittens Hocker sind auffällig. &nbsp;Und was lässt sich zum „urbanen Nomadentum“ sagen, das im Instant Housing LAB des Künstlers Winfried Baumann (nun in der Dauerausstellung im Neuen Museum Nürnberg zu sehen) 2020 entstanden ist? In einer Art Metall-Wohncontainer auf Rädern findet sich eine Einrichtung bestehend aus kubusförmigen Behältnissen aus unbehandeltem Holz, mit je einer ovalen Aussparung als Griff auf der Oberseite und je einen Griff an zwei Seiten. Der Geist des Itten-Hockers lebt hier weiter und, auch in diesem Fall, deutet auf ein „Living in Motion“ hin.
Abbildung 3: Die Itten-Schule Berlin 1930, Foto&nbsp;UMBO, © Phyllis Umbehr/Galerie Kicken Berlin/VG Bild-Kunst 2024
Nach der durch den Nationalsozialismus bedingten Schließung der Itten-Schule im Jahre 1934 verschwanden Schule und Marke, der Itten-Hocker machte sich rar. Es sollen lediglich zwei Exemplare davon dokumentiert sein. Daraus wurden schließlich drei: Itten hatte drei Kinder, jedes sollte einen erhalten.
Die Reedition des Hockers stellt deshalb nicht nur das historische Zeugnis einer Kunstschule dar, die die Lehre stark mit der individuellen ganzheitlichen Entwicklung verknüpfte, sondern ein Instrument für die Umsetzung einer Idee mit zahlreichen Entwicklungsmöglichkeiten ist, deren Wirkung heute noch in vielen Anwendungsfeldern spürbar ist. Mit anderen Worten, der Itten-Hocker ist ein Möbelstück, das uns heute noch viel zu sagen hat&nbsp;(15)&nbsp;– und ist deshalb ein Klassiker!
(1) Eva Streit, Die Itten-Schule Berlin. Geschichte und Dokumente einer privaten Kunstschule neben dem Bauhaus, Berlin 2015. Streit stellt auf und begründet ausführlich die These der „Marke“-Itten-Schule.&nbsp; (2)&nbsp;https://hfg-archiv.museumulm.de/ausstellung/ulmer-hocker/, 26.10.2024. (3)&nbsp;Material und Konstruktion beziehen sich sowohl auf das Original als auch auf die Re-Edition, die durch eine Schreinerei im Rheinland erfolgt. (4)&nbsp;E. Streit 2015, zit., S. 206. (5)&nbsp;E. Streit zitiert Itten in: Streit 2015, zit., S. 109. (6)&nbsp;E. Streit 2015 zit., S. 140. (7)&nbsp;Willy Rotzler, Johannes Itten, Zürich 1978, WVZ 324, S. 316&nbsp; (8) Ebda. (9)&nbsp;E. Streit 2015 zit., S. 168–169. (10)&nbsp;E. Streit 2015 zit., S. 174. (11)&nbsp;E. Streit 2015 zit., S. 331, 334, 334. (12)&nbsp;Rainer K. Wick, Johannes Itten. Kunstpädagogik als Erlebnispädagogik? Lüneburg, 1997, S. 71.&nbsp; (13)&nbsp;E. Streit 2015 zit., S. 123. (14)&nbsp;Ziel der Nutzung einer Plyobox ist das plyometrische Training, also das Spungtraining. Für die Informationen zur Plyo-Box danke ich der Praxis Athera Bonn Weststadt. (15)&nbsp;Frei zitiert nach Italo Calvino, Warum Klassiker lesen?, Frankfurt am Main 2013.
Abbildung 1:&nbsp; Der Itten-Hocker im Kunstunterricht, Berlin 1930, Foto UMBO, © Phyllis Umbehr/Galerie Kicken Berlin/VG Bild-Kunst 2024 Abbildung 2:&nbsp; Johannes Itten auf dem Itten-Hocker, Berlin 1930, Foto UMBO, © Phyllis Umbehr/Galerie Kicken Berlin/VG Bild-Kunst 2024 Abbildung 3:&nbsp; Johannes Itten auf dem Itten-Hocker, Berlin 1930, Foto UMBO, © Phyllis Umbehr/Galerie Kicken Berlin/VG Bild-Kunst 2024
Weiterhin findet sich der Itten-Hocker in dem neuen Itten-Werksverzeichnis, Band 1 und Band 3, von&nbsp;Christoph Wagner,&nbsp;Hirmer Verlag 2024
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